Schammasch – The Maldoror Chants: Hermaphrodite: Einzigartig
Schammasch, die Basler Extra-Metaller, legen ein Jahr nach ihrem unglaublichen und hochgelobten Konzept-Triple-Album Triangle bereits ein neues, tollkühnes Album vor.
Doktor Fisch
Am 23. Februar 2017 ist in Basel Hans Rudolf Linder im hohen Alter von 96 Jahren gestorben. Linder war Journalist und Feuilleton-Chef der damaligen National-Zeitung Basel. Seine Dissertation verfasst er 1946 an der Uni Basel über «Lautréamont: sein Werk und sein Weltbild». 1947 wurde die Dissertation gedruckt und gilt als eine der detailliertesten deutschsprachigen Arbeiten zum geheimnisvollen Autor Comte de Lautréamont¹, bürgerlich Isidore Lucien Ducasse (Bild unten). Dieser war schon 1870 gestorben, im jungen Alter von 24 Jahren, an einem bösartigen Fieber, im von den Preussen belagerten Paris. Sein Hauptwerk, «Die Gesänge des Maldoror», war 1869 zwar gedruckt, aber bis zu seinem Tod nicht integral veröffentlicht worden. Sein Verleger fürchtete den Staatsanwalt. Völlig zu recht. Doch davon später oder in einem anderen Leben. Zuerst diese Beschreibung des Unbeschreibbaren.
«Gesänge des Maldoror» als Thema mehrerer Schammasch-Releases
Schammasch, die Basler Extra-Metaller, legen ein Jahr nach ihrem unglaublichen und hochgelobten Konzept-Triple-Album Triangle bereits ein neues, tollkühnes Album vor. Knappe 32 Minuten lang ist es und so dark wie es kein Sommertag jemals sein kann. Und auch kein Wintertag. Einziges Thema des Albums, das von der Band als erstes einer Reihe von Releases zu den «Gesängen des Maldoror» angekündigt wird, ist eine Passage aus dem II. Gesang dieses furchterregenden Buchs des umstrittenenen französischen Autors der «schwarzen Apokalypse» (H.R. Linder).
Der Szene des Hermaphroditen ist eine der lieblichsten, schönsten in diesem von Monströsität, Brutalität, Sadismus und pechschwarzem Humor dominierten fiktiven Roman. Dieser spielt teils vor und teils während der (möglichen) Schöpfungsgeschichte, also ausserhalb jeder realen Zeit. Und manchmal ganz banal in den Gassen des ärmlichen Paris. Maldoror², der böse, aggressive Held, Ausgestossener und Gegenspieler Gottes, verbringt grosse Teile seiner Zeit damit, den Schöpfer erbarmungslos zu bekämpfen und zu verspotten. Er bezichtigt ihn selbst der allerersten Sünde überhaupt, noch bevor er die Menschen erschaffen hat. Eine der widerlichsten Szene ist diejenige eines sadistischen, blutrünstigen, verlogenen Gottes im Bordell (III. Gesang), aber davon ein andermal.
Die Liebe zum ebenso einsamen wie perfekten Wesen
Der Hermaphrodit also. Warum steht gerade er am Anfang von Schammaschs Maldoror-Œuvre? Vielleicht, weil er in den gesamten (sechs) «Gesängen des Maldoror» die einzige sympathische Figur ist, und auch die einzige, zu der Maldoror eine Art Bruder/Schwester-Verbindung spürt? Ein Hinweis ist ein Satz im Textblatt zum Album, der n i c h t aus den Gesängen stammt, sondern (vermutlich) von Schammasch:
«Die Geheimnisse, die er in seinem eifrig-freudigen und melancholischen Herzen birgt, sind behütet durch den kosmischen Geist, wie das Zentrum von Adonai (der Herr, Gott) selbst. Zu vollkommen, um inmitten der Menschen zu existieren, so zerbrechlich und voller Liebe.»
«The secrets he bears within his eavenhandedly joy(o)us and melancholic heart is treasured by the cosmic spirit like the center of Adonai itself. Too perfect to exist among men, so fragile and full of love.»
Doch genung der Worte, hier die Musik. In Worten.
Die kongeniale Vertonung ist ein purer Trip ohnegleichen
Schammasch eröffnen die Vertonung des Texts mit einem superfinster dröhnenden, bedrohlichen Ambient-Prolog voller verfremdeter Stimmfetzen, wummernder Pauken und Synthie-Brechern. Der erste betitelte Track, «The Weighty Burden Of An Eternal Secret», marschiert stampfend durch obskure Sound-Landschaften und beginnt mit dem (englischen) Text aus der Hermaphrodit-Erzählung der Gesänge: «Dort in dem Hain, umgeben von Blumen, ruht auf dem Rasen, der feucht ist von den Tränen, in tiefem Schlummer, der Hermaphrodit.» Ein Sing-Sang setzt ein, die Stimmung wird allmählich leichter und friedlich.
Dann aber wirds brachialer: In «Along The Road That Leads To Bedlam» (Bedlam = Bicêtre³ im Original) setzen Double Bass Drum und schneidende Gitarren ein, der Schammasch-Sänger rezitiert den brutalen Überfall auf den Hermaphroditen. Die Täter: vier «maskierte Männer». Doch der Hermaphrodit lächelt trotz der brutalen Misshandlungen und schafft es mit Worten, seine Peiniger von der Schönheit, vom hohen Gut der Bildung und Dichtung zu überzeugen. Sie erflehen seine Vergebung und er gewährt sie ihnen.
Hier nimmt der Hermaphrodite fast schon Züge von Jesus an. Der kurze Track «These Tresses Are Sacred» beschliesst die erste Seite der LP, die das Genre Metal hinter sich gelassen hat. Aber: Gott beschütze uns vor dem bösen, bösen Wort «Rock Oper»! Das hier ist dunkle Kunst: Die Vertonung dieses Gesangs ist ein ultradichter purer Trip ohnegleichen (einiges an Musik ist bereits zu Lautréamont und den «Gesängen des Maldoror» erzeugt worden; lasst bitte die Finger von diesen halbgaren, verklärten Versuchen der Huldigung – und hört Schammasch!).
Der Rest sei hier nicht verrraten (eine Streaming-Preview gabs bei Metal Hammer UK). Ausser, dass das Album in doomigen, psychedelischen, doch auch mit rasendenden Drums und beschwörenden, hymnischen Gesängen zum epischen Ende hindräunt, und mit der panischen Bitte Maldorors/Lautréamonts an den Hermaphroditen endet: «Do Not Open Your Eyes»! Oder im Orginal bei Lautréamont: «Dors ... dors toujours, mais, n’ouvre pas tes yeux. Ah! n’ouvre pas tes yeux! (...) Que la paix soit dans ton sein!»
Die Revolte gegen die Schöpfung – die Suche nach der Balance
Wohin nehmen uns Schammasch da mit? Ins intellektuelle Nirwana? Nein, einfach zum Next Level ihres sorgsam und konsequent gebauten, uneinnehmbaren Universum des Lichts. Wer weiss, in welche transzendenten Sphären diese Band noch vordringen wird?
«Die Gesänge des Maldoror» sind natürlich keine Literatur für die Sommerferien und Schammasch sind natürlich keine Band für den Metal-Mainstream. Die Schnittmenge an möglichen Lesern und Hörerinnen ist also sehr klein. Aber: Hier wird Kunst erschaffen, grosse Kunst, auf Augenhöhe mit dem furiosen, rätselhaften Werk des Comte de Lautréamont; dem Poeten der Revolte gegen die Schöpfung, dem Anarchisten unter den Post-Romantikern und Proto-Surrealisten. Dem Verlorenen.
Zur Kunst zählt auch das Plattencover des mexikanischen Künstlers Hector Pineda (in den USA kommen LP und CD prüderiegemäss mit einem Kleber über Penis und Brüsten in den Verkauf ...).
Es ist kein Zufall, dass die Sehnsucht nach der kosmischen Einheit, nach dem neuen Menschen, nach dem dritten oder nullten Geschlecht (oder dem allerersten) gerade in unserer heutigen, rasenden, unübersichtlichen und gewalttätigen Zeit zunimmt. Das Text-Inlay des Albums legt das Konzept dieses ersten Albums zu Maldoror dar: «Der Hermaphrodit steht für das Symbol von Transformation und Transzendenz. In der Symbiose des Männlichen und des Weiblichen (...) und hilft, die Balance herzustellen.» Höchst erstrebenswert, wie mir scheint.
Die Einzigen Ihrer Art: Hermaphrodit, Maldoror, Lautréamont/Ducasse, Schammasch.
So wie der Hermaphrodit – dieses intersexuelle Wesen, das (immerhin in der griechischen Mythologie) aus der Verschmelzung zweier Liebenden (Hermaphroditos und Salmakis) entstanden ist, – einzigartig, allein und verloren auf der Welt ist, so ist es auch der rätselhafte Maldoror, der uns in die Abgründe der Seele, des absolut Bösen, in die Wirren der (möglichen) Schöpfungsgeschichte mitnimmt. Der Hermaphrodit ist der einzige seiner Art im ganzen Universum, Maldoror ist es genau so, Lautréamont/Ducasse ebenso, und Schammasch sind es auch. Sie alle erzählen von der Sehnsucht nach Erlösung und Frieden. Hört ihnen zu.
Schade, gibt es diese Musik erst jetzt. Hans Rudolf Linder hätte sie 1946 hören sollen, als er 25-jährig in Basel seine Arbeit über Lautréamont schrieb. Schade auch, dass Isidore Ducasse, der sich Lautréamont nannte, diese Musik nicht mehr hören kann. Und Maldoror. Wer immer er auch sei. Vielleicht kommt er, aufgeschreckt und entzückt vom tiefen Dröhnen aus Schammaschs Hallen, eines Tages zurück.
¹ Ducasses Pseudonym Lautréamont: von l’autre Amon = der andere Engel des Bösen (nach Ré Soupault)
² Maldoror: von l’aurore du mal = aufgehende Sonne/Morgenröte des Bösen (Deutung der Surrealisten, u.a. Marcelin Pleynet)
³ Bicêtre: ehemaliges Hospital, Irrenhaus und Gefängnis nahe Paris
Schammasch – The Maldoror Chants: Hermaphrodite
(Prosthetic Records USA) ist am 9. Juni 2017 als LP, CD und digital erschienen. Zu kaufen im Plattenhandel, direkt im Schammasch-Shop oder über Bandcamp.