Scratches – Before Beyond: Gefährlich gut
Ein heruntergekommener und wieder bewohnbar gemachter Gutshof in Tornow im Brandenburgischen Niemandsland, südlich von Berlin: Hier ist das neue Album von Scratches im Herbst 2015 zum Leben erweckt worden. Scratches aus Basel machen nicht einfach Musik, sie zelebrieren sie, sie halten die Fahne der Kunst, des Dramas und der Poesie weit hinaus in den Wind. Existentialismus 2017, als Gegenentwurf zum schnellen, farbigen und oft so plakativen Leben da draussen im wegwischbaren Wohlstandseinerlei. Oder auch einfach, weil die Vier von Scratches machen, was sie wollen und am besten können: Im Schatten Licht erschaffen.
Pascal Cames, unser Mann in Offenburg, hat reingehorcht in Before Beyond. Hier seine Depesche, soeben vom Eilboten überbracht:
Pascal Cames
Scratches-Sängerin Sarah-Maria Bürgin klingt in manchen Songs, als würde sie morgens mit Whiskey und rostigen Nägeln gurgeln. Aber nichts von alledem, schon als Kind habe die Baslerin «wie ein heiserer Bub» geklungen. Wer mit so einem rauchigen Organ gesegnet ist, muss in die Musik! Marla Glen, Macy Gray und die Queen der Zunft, Marianne Faithfull, sind nicht nur wegen ihrer Songs, sondern vor allem wegen ihres Organs berühmt geworden. Wie man weiss, ist nicht immer ist das «Was», sondern das «Wie» entscheidend.
Die 2010 von Sängerin und Theaterregisseurin Sarah-Maria Bürgin und Gitarrist und Theatermusikkomponist Sandro Corbat gegründete Band Scratches startete vor langer Zeit mit «Rock'n Roll Suicide», «Satisfaction», «Policy Of Truth» und anderen Cover-Songs. Und debütierte 2014 mit dem Album Fade; diese Lieder waren dann längst die eigenen. Die Sängerin schreibt Lyrics und Melodien, der Gitarrist ist für Musik und die Arrangements zuständig. Weil die beiden es «schöner fanden, live eine Band zu sein», haben sie sich mit Jonas Prina (dr) und Marco Nenniger (bs) zum Quartett erweitert. Das ist nicht nur für die Bühne gut, sondern auch auf CD und Vinyl.
In den zehn neuen Liedern hört man die Einflüsse von Americana, Blues, Cajun, Elektronik und Pop heraus. Viele Songs sind wie gemacht für das melodramatische Kopfkino, sind Soundtracks für imaginäre Roadmovies, wo eine kalte E-Gitarre genauso dazu gehört wie warme Basstöne oder ein historischer Orgelsound.
Das Drama, das Majestätische
Drei Songs ragen aus der Sammlung heraus: Da ist das lockere «Medusa’s Hair» mit der klaren E-Gitarre, die dem Song noch einmal einen anderen Dreh gibt, und «Repression», eine weitere Keimzelle fürs Kopfkino, aber sehr munter gespielt und mit einem wunderbaren melodiösen Bass aufgehübscht. Das ist ein Song fürs Radio.
Und dann gibt es noch das gefährlich gute «Beautiful» (RFV-Video of the week), das in seiner Düsternis und Theatralik an die morbide Melancholie eines Sparklehorse oder an TripHop anknüpft. Hier, in diesem Song, meint man den Entstehungsort des Albums, diesen schlossartigen Gutshof in Brandenburg (im Bild ein Zimmer), herauszuhören. Oder liegt es daran, dass die beiden Theater- und Musikmenschen Bürgin und Corbat sich mit Drama besonders gut auskennen? Diese Langsamkeit hat etwas Majestätisches. Die Basler Drama-Queen Sarah-Maria Bürgin hätte kein besseres Album machen können.
Scratches – Before Beyond
(Czar Of Crickets Productions) erscheint am 20. Januar 2017 als CD, LP und digital.