16–17 – Phantom Limb: Das lange Echo der radikalen 90er Noise-Kultur
Ein neues Album der in Basel beheimateten Noise-Kult-Band 16–17 um Mastermind Alex Buess? Tatsächlich! Und das auch noch mitten in diese lähmende Corona-Krise hinein – als hätte man nicht schon genug der Herausforderungen. Phantom Limb ist ein Hybrid aus 90er Avantgarde-Freigeist und 2020er Klang-Ästhetik, der schwer zu verorten ist. Aber das freundliche Albumcover von Marco Papiro lädt uns ein, neugierig zurückzuschauen und hinzuhören. Let’s go.
Doktor Fisch
Es ist ein langes Echo, das aus der Tiefe der Zeit am 3. Januar 2020 plötzlich aufgetaucht ist. Ein Echo extremer Noise-Musik der 90er Jahre, damals im Trio 16–17 eingespielt von Alex Buess (sax, electronics), Damian Bennett von den UK-Breakbeat-Berserkern Techno Animal (bs) und Michael Wertmüller von Alboth! aus Bern (dr). Die Aufnahmen stammen von 1995, doch weitere Recordings (Instrumente, Vocals, Sampling) und der letzte Schliff (Mix und Mastering) sind bis vor knapp einem Jahr hinzugekommen: Drums für einen Track hat der im März 2016 tragisch verstorbene Daniel Buess (Ensemble Phoenix, Mir) noch 2015 beigesteuert. Dazu kamen 2018/2019 Gitarrenparts von Roger «BigRogers» Graf und die Vocals von Eugene S. Robinson von Oxbow und Kasia Meow / Kasia Robinson. Und so klingt der Sound dieser Produktion doch einiges besser als vergleichbare Platten noch vor 25 oder 30 Jahren. Genauso roh zwar, aber wesentlich transparenter, dynamischer und räumlicher.
Menschenschweiss, nicht Motorenöl
16–17 sind 1983 in Basel von Alex Buess und Knut Remond gegründet worden und haben sich immer international formiert: So haben Musiker von Techno Animal, Godflesh, Oxbow und Alboth! zum Line-up der Band gehört. 2000 löste Buess 16–17 auf; das neue Album kommt deshalb auch für die gut mitgealterte, weitherum verstreute Fangemeinde des Noise genau 20 Jahre später doch überraschend, schliesst jedoch eine Lücke, die immer da war. Ein Comeback mit Ausrufezeichen ist es auf jeden Fall.
Phantom Limb atmet klar den Geist und die Radikalität der ausgehenden 80er und frühen 90er Jahre. Dieser Sound ist brachial, komplex, experimentell, kompromisslos, verstörend… mit einem Wort, eben: radikal. Und ab und zu ziemlich fies. Die Band agiert dort, wo die totale Eskalation nur einen Windhauch entfernt liegt. Kontrolle behalten im Chaos, so der Auftrag von Noise/Jazzcore/Industrial – eine Haltung, die auch in dieser Zeit im ätzenden Jahr 2020 ganz oben auf der To-do-Liste steht.
Die Tracks von 16–17 sind als Schocker angelegt, da wird nicht langsam aufgebaut. Das Schöngeistige oder Akademische des Kammer-Jazz, der Neuen Musik oder der Impro-Szene fehlt hier weitgehend. Hier ist Punk. Das Album kommt im Kern als Noise-basierter Hexenmeister mit Hardcore-Jazz-Nieten bestückt in die gute Stube, getrieben von stakkatohaft abgefeuerten Drum-Salven, hoch- und quer-gepitchten Saxophonsirenen, wüstem Sampling, Kreissägegitarre, Prügel-Bass und screamo-beseelten Vocals… wie gesagt: Eine Herausforderung in dieser dräuenden Stille im April 2020.
Aber Maschinenmusik – wie zum Beispiel gängiger Industrial in jener Zeit und Techno (Robotermusik, haha!) etwas später gern umschrieben wurden – Maschinenmusik ist das nicht. Die Währung der Musik auf Phantom Limb ist Menschenschweiss und nicht Motorenöl.
Phantom Limb, Seite A ….
Seite A bombt mit den ineinander vernieteten Tracks «The Hate Remains The Same» (break-durchsetzter Noise-Rock), «Interruptus» (Feedback-Monster im Ambient-Schutzanzug) «Words Of Warning» (Hardcore-Attacke) und «Crash» (Double-Bass-Tornado) ein 20-minütiges, wütendes Extremerlebnis aus den Boxen, das farblich zwischen rabenschwarz, blutrot und metallen glänzend zu umschreiben ist.
Bevor es zur Seite B geht: Horchen wir doch kurz in die 90er zurück, um zu verstehen, warum Noise oder (Free)Jazzcore damals mit dieser Ernsthaftigkeit auftraten, um eine avantgardistische und solidarische Gegen- und Subkultur zu manifestieren, die es in der heutigen uneinigen, super-individualisierten und rechthaberischen Ego-Popkultur ja eigentlich fast nicht mehr gibt.
Die 90er: Entspannung und Verklärung
Die 90er Jahre: Die Grossmächte hatten abgerüstet, die elenden Golfkriege (die Kriege um Erdöl) waren erstmal vorbei, die Mauern waren gefallen, Perestroika und blühende Landschaften überall… Entspannung, Baby! Nicht ganz: In Europa brachen die brutalen Kriege in Ex-Jugoslawien aus, in Ruanda und im Kongo kostete ein unfassbarer Genozid einer Million Menschen das Leben, da war der Tschetschenienkrieg, die Kongokriege mit Millionen von Opfern… Also doch nichts mit den befriedeten 90ern.
In Westeuropas Metropolen jedoch pulsierte eine freie, kreative Subkultur, Techno wurde zur Mainstreamkultur und das Internet wandelte sich von der belächelten Spielwiese einiger Tech-Freaks zum neuen, «globalen Dorf» (sagte man damals so, man sagte ja auch «Datenautobahn»). Immerhin: 9/11 hatte noch nicht zu neu erstarktem Nationalismus und Rechtspopulismus im Westen sowie zur folgenschweren US-Invasionen (Irak, Afghanistan, Libyen etc.) und dem daraus geborenen Erstarken bzw. der Rache des radikalen Islams geführt. Kurzum: Die 90er zu verklären wäre fahrlässig.
Musikalischer Extremismus: Noise/Jazzcore, Black Metal und Grindcore
Es war die Zeit nach Post-Punk, als Musiker zwischen New Yorker Down Town Scene & No Wave und japanischem Noise ihre Konzerte und Platten vor allem auf das Ausloten der hinterletzten Ränder des musikalisch Erträglichen und Machbaren ausrichteten. Also: Musik brachial laut, frontal und brutal rausschreien (dB-Limiter gab es nur als Gerücht). Irgendwie war das ja für alle Beteiligten sehr reinigend und verbindend.
Musikalischer Extremismus war natürlich keine Jugendkultur und so in der Gesellschaft eigentlich gar nicht sichtbar (abgesehen von Festivals wie Taktlos etwa in der Schweiz). Er gedieh trotzdem gut vernetzt von Mitte der 80er bis weit in die 90er Jahre hinein (und natürlich schon vorher), in einer Zeit also, als weiter nördlich nur im Black Metal ähnliche krasse Verletzungen des guten Musikgeschmacks zelebriert wurden – und im Grindcore britischer und US-amerikanischer Bauart natürlich. Das alles waren die Erb*innen der rumorenden Punk-70er und 80er Jahre, jener Phase also, die man als laute Anti-Establishment-Antwort auf den Kalten Krieg/Krieg um Öl lesen kann.
Diese Noise-Musiker*innen – so scheint es mir im Gegensatz zur Technoszene – waren doch relativ drogenarme Mindfucker. Die Klarheit des Geistes, der solch anspruchsvolle, extreme Sounds zu erzeugen sich in den Kopf gesetzt hatte, siegte über den dauereregierten Körper etwa der Techno-Raver*innen, die auf Pillen als Basistreibstoff des eigenen Tanzapparats setzten. Und in dieser Zeit, so scheint mir erneut, waren Gegen- und Subkulturen freier und selbstbewusster als heute, weil sie im Mainstream nicht sicht- und von globalen Playern nicht verwertbar waren. Beispiel: Die Independent-Plattenlabels verkauften nie mehr physische Musik als in den 90er Jahren – heute verdienen mit Musik nur noch globale Tech-Player und ihre Investoren Geld. Wie auch immer: Ab Mitte der 90er Jahre begann auch die musikalische Gegenkultur ihre letzte Unschuld zu verlieren und zu erodieren. Und nicht allein deshalb, weil Kurt Cobain gestorben war. Sondern: Es gab in der Subkultur mit ihren Independentstrukturen einfach plötzlich wirklich Geld zu verdienen.
… und Phantom Limb, Seite B
Zurück zur unbestechlichen Musik auf Phantom Limb. «Bender» auf der B-Seite führt Noise-Rock in die nächste Runde, während im «Subliminal Song» Daniel Buess als Schlagwerkmaniac in einem düster rumorenden Industrial-Noise-Kracher zu hören ist. Am Ende räumt der Track «Asia’s Lullaby» dann die Wrackteile von der Piste und haucht dem Album mit fernöstlich angehauchtem Kling-Klang und verzerrtem Saxophonwispern etwas Versöhnung ein – ein Schlusspunkt wie gemacht für einen Soundtrack zu endzeitlichen Vietnamkriegsliteraturverfilmungen.
Dann entlässt Phantom Limb die geneigte Hörer*innenschaft in den Feierabend, wo allerdings kein frisch gezapftes Feierabendbier im frühlingshellen Kaiser*innenwetter und kein frohes Beisammensein um den lustig rauchenden Grill am mediterran zurechtgepimpten Rheinufer warten, sondern… die neuesten Zahlen zu dieser vermaledeiten Corona-Epidemie. Und ein weiterer Rundgang durch diesen stillen Wartesaal namens Quarantäne. Berühren ist verboten, Musik ist es nicht. Aber es fehlt einfach etwas, nicht wahr?
16–17 – Phantom Limb
(Trost Records Wien) ist am 3. Januar 2020 als LP und digital erschienen. Bestellen hier oder via Bandcamp. Die LP kommt mit Download-Code; die digitalen Tracks sind etwas länger als diejenigen auf Vinyl.
Line-up 16–17 für Phantom Limb
Alex Buess (sax, cl, electronics, voc), Damian Bennett (bs), Michael Wertmüller (dr), Daniel Buess (dr), Eugene S. Robinson (voc, lyrics), Roger Graf (git, dobro, voc), Kasia Meow (voc).
Alex Buess – Basler Noise/Free-Jazz-Pionier; Musiker, Komponist, Produzent, Tonmeister
Alex Buess, der Basler Kopf der Band 16–17 (1983–2000, 2019–) hat als Musiker, Saxophonist, Komponist und Produzent in verschiedensten internationalen Projekten mitgearbeitet und in Bands wie Ice, God und The Bug (alle mit Kevin Martin, Techno Animal), Phantom City (Paul Schütze, Bill Laswell, u.a.), Sprawl (mit Peter Brötzmann und Michael Wertmüller), Cortex (mit Daniel Buess) u.a. mitgewirkt.
Er setzte zahlreiche Kompositionsaufträge für zeitgenössische Musik um, etwa von Pro Helvetia, vom Lucerne Festival, dem SWR für das Donaueschingen Festival, vom Ensemble Phoenix (Basel) und Ensemble Modern oder vom Zürcher Festival «Tage für Neue Musik». Ausserdem hat Buess als Tonmeister für Radio SRF viele Konzert-Liveaufnahmen zu verantworten (u.a. Pierre Boulez Hommage, Lucerne Festival 2015). Als Audio Engineer hat er zudem verschiedene Studioproduktionen betreut, etwa im Auftrag verschiedenster Labels wie Virgin, Island oder Big Cat. Seine Kompositionen wurden und werden in Europa und überall auf der Welt aufgeführt. Alex Buess arbeitet und lebt in Basel.
Discography, Rereleases, Sounds, Projekte, Werkliste und mehr auf der Website von Alex Buess.