Scalatrax – selftitled: Never Skip A Beat
Ein endlos begnadeter Schlagzeuger macht sein Debütalbum – ganz ohne Schlagzeug. Wie aus Field Recordings, Geräuschen, klirrenden Scherben, raschelnden Chips, Samples und Synthies eine trippige Klangwelt gebaut werden kann – inklusive illustrer Vocal-Features – zeigt der Basler Florian Haas-Schneider aka Scalatrax auf dem Debüt seines gleichnamigen Projekts. Noé Herrmann hat den Bausatzkasten genau studiert, seine Analyse macht viel Lust auf diese aussergewöhnliche, urbane Musik.
Noé Herrmann
Es gibt in der Region Basel einige sehr gute Drummer*innen. Da wäre Marco von Allmen (Zeal & Ardor), Noé Franklé (Immigration Unit, Gina Été), die mittlerweile in den USA lebende Sue Pedrazzi (Sweat, Walross), Alon Schmidhauser (Mastergrief, Malummì, Arbajo Jairus) und viele, viele mehr.
Und dann gibt es Flo Haas.
Bei ihm wäre es stilistischer Unsinn, die Liste der Acts, bei denen er aktiv mitwirkt, in Klammern hinter seinen Namen zu schreiben, so wie ich es in der Auflistung oben gemacht habe. Denn die Liste ist nicht nur sehr lang, sondern auch extrem vielfältig: Da wäre der Basler Pop-Preis-Gewinner 2018, Audio Dope (Electronic), die Bossa Nova-Combo Café da Manha, Basels Soul-Queen Nicole Bernegger, Basels andere, etwas jüngere Soul-Queen Emilia Anastazja, die Improvisations-Band Das Letzte Kollektiv, die musikalischen Projekte Space Whalers und Nobody Reads rund um die Basler Kulturförderpreis-2019-Gewinnerin (Legion) Seven, rund acht Jazz-Combos, unser Pop-Starlet Anna Rossinelli, Wortakrobat Laurin Buser und again: viele, viele mehr.
Bei all diesen Projekten sitzt Flo Haas unter seinem Pseudonym Flowrian Drums hinter den Kesseln und schafft es jedes Mal, die individuellen musikalischen Merkmale der jeweiligen Band mit auf den Punkt gebrachten Beats perfekt zu untermalen.
Diese Vielfalt, diese immense Bandbreite verschiedener Musikstile und das damit entstandene Netzwerk grossartiger Musiker*innen macht Flo Haas zu einem Unikat. Und zum gefragtesten und besten Drummer der Region – wenn ihr mich fragt. Das hat auch die Fachjury des RegioSoundCredit gewürdigt und Florian Haas-Schneider, so sein voller Name, ein Reisestipendium für London zugesprochen.
Drums und alles Drumherum
Für sein neues Solo-Projekt Scalatrax hat der ausgebildete Sound-Engineer ausnahmsweise Trommeln und Stecken vollständig beiseite gelegt und präsentiert uns mit seinem selftitled Debüt ein komplett aus Keys und Samples gebautes Beat-Album. Ganz in der Manier grosser Trip Hop- und Downtempo-Artists wie Bonobo, Shlomo und Thievery Corporation oder regionaler Grössen wie Luke LeLoup und Audio Dope, arbeitet Scalatrax mit Field Recordings und Geräuschen, die er selber aufnimmt, klug panachiert und arrangiert, um damit neue, trippige Klangwelten zu erschaffen.
Das Ergebnis: Langsame Beats, die zum Kopfnicken animieren und gleichzeitig das für 1990er Trip Hop à la Portishead typische Lynch-eske Gefühl des Unbehagens auslösen. Das Klirren von Scherben wird zur Snare Drum, das gepitchte Zuklappen des Kompost-Eimers zur Kick Drum und analoge Synthie-Noises zum verzerrten Glockenspiel. Neben Geräusch-Samples sind auf den sieben Songs auf Scalatraxs Debüt nämlich ausschliesslich Synthesizers, ein paar Blasinstrumente und ein Klavier zu hören. Und – obwohl das Album auch als reines Instrumental-Werk absolut fett wäre – eine ganze Menge verschiedener Vocals.
Für Scalatrax hat Flo Haas ganz tief in seine Connection-Kiste gegriffen und sechs Feature-Artists für das Projekt gewinnen können, die – bis auf Saxophonist und Komponist Niko Seibold – allesamt Vocalists sind.
Trip Hop's Not Dead!
Niko Seibold ist gleich auf dem ersten Track «Budhas Rhythm» [sic] zu hören, der zu Beginn schon mal eindrücklich klar macht, wo's auf diesem Album langgeht: Buddhistische Mönchs-Choräle aus dem Off verschmelzen mit klirrenden Scherben langsam zu einem minimalistischen Beat, der später von einer Flöte und wahrscheinlich einer Pipa (chinesische Laute) begleitet wird. Die Vocals beschränken sich auf eine gesampelte männliche Erzählstimme, die aus einem alten englischen Buddhismus-Dokumentarfilm zu stammen scheint und dem ziemlich experimentellen Arrangement des Tracks – der von einem dreckigen Synthie-Bass unterlegt im letzten Drittel plötzlich in eine völlig andere Richtung wechselt – einen leitenden, roten Faden gibt.
Wärmer und souliger wirds auf Track 2 «Circles» (Video s.u.) wieder mit Niko Seibold (dieses Mal am Saxophon) und dem Rapper/Vocalist Ryler Smith aus Zürich. Die geräuschlastige Klangkulisse bleibt gleich und der Beat langsam, aber das ganze Feeling kippt in eine eher entspannt-melancholische Sonnenuntergangs-Stimmung, die (einfach mal als Vorschlag) zum Jointrauchen anregt.
Track 3 «Hold On» beginnt mit einem Glockenspiel-Loop und einem Gedicht des in Berlin lebenden Feature-Artist Black Cracker aus Alabama, USA. Im Verlaufe des ersten Verses wird das Glockenspiel zum Beat und das Gedicht zu Rap. Die Stimmung ist düster, die Musik erinnert an das Album ISAM von Amon Tobin und an die Geräuschkulisse einer Uhren-Manufaktur. Zweiteres besonders ganz am Schluss, wenn das Stück langsamer und tiefer wird, ähnlich wie bei einer Standuhr, die wieder aufgezogen werden muss.
Mein persönlicher Favorit auf diesem Album ist Track 4 «Candy Life» feat. Pablo Vögtli und Amoa. Dass Pablo Vögtli, bekannt als Moderator bei SRF Virus & SRF 3 und begnadeter Fried-Chicken-Koch, gut rappen kann, wissen wir spätestens seit seinen Auftritten am von ihm gehosteten (und erfundenen!) «Virus Bounce Cypher». Englische Texte in sehr hoher Geschwindigkeit und so dermassen akzentfrei, dass er klanglich von realen US-Rapper*innen kaum zu unterscheiden ist.
Und als wäre das (und der fette Industrial-Beat) nicht genug, beehrt uns ab ungefähr der Hälfte des Tracks die bezaubernde Basler Vokalistin Andrea Thoma (Amoa) mit ihrer gefühlvollen, für Trip Hop wie massgeschneiderten Engelstimme. Was für ein Erlebnis!
Nach diesem Highlight folgt mit Track 5 «Split» ein rein instrumentaler Track. Umgekehrt wie der Schluss von «Hold On», kommt der maschinell klingende Beat am Anfang erst langsam ins Rollen und wird später von leicht hinterher hinkenden Synth-Sounds und einer gesampelten Erzählstimme begleitet.
«I am Spartacus!»
Mein zweiter Favorit findet sich an zweitletzter Stelle: Track 6 «Brain Compost» feat. Legion Seven. Die Basler Queer*-Ikone mit kanadischen und jamaikanischen Wurzeln (zuvor unter dem Namen Sarah E. Reid bekannt) steht sinnbildlich für laute, exzentrische Kunstperformances und eine unverwechselbare, energische Singstimme. Auf «Brain Compost» hält Legion Seven ein persönliches Gespräch mit sich selbst und lässt tief in eine von starken Kontrasten und einer mit scheinbar endloser Verrücktheit geplagten Seele blicken. Begleitend dazu ein industrieller Trip Hop-Beat, der vom legendären Album Mezzanine von Massive Attack stammen könnte.
Mit dem sehr kurzen, aber unglaublich trägen Instrumental-Track «Muscous Treasure» fasst Flo Haas das ganze Album nochmals zusammen, zeigt uns nochmals seine ganze Geräusche-Bibliothek und findet damit einen perfekten Schluss für dieses erstaunlich reife und vielfältige Debüt.
Was in den 1990er-Jahren Trip Hop war, später im Downtempo und Leftfield wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wurde, hat Florian Haas mit Scalatrax in sieben Tracks schön auf den Punkt gebracht. Ein Album, das sowas von problemlos auf einer Urban-Beat-Playlist auf Spotify landen und damit die internationale Musikszene aufmischen kann. 100 Punkte.
Scalatrax – selftitled
(Radicalis Music) ist am 10. April 2020 digital erschienen.