Naked In English Class – selftitled: Musik als Atemhilfe
Der 20. Januar 2021 markiert den ersten Todestag des Ostschweizer Kult-Musikers und -Songwriters Olifr M. Guz (Die Aeronauten) und den Release eines speziellen Albums. Zusammen mit der Basler Musikerin Taranja Wu hat Guz seit 2016 Platten als Naked In English Class veröffentlicht. Nun ist das letzte, selbstbetitelte Album des Duos erschienen. Es steckt den Punk-Rock-Klassikern den Elektro-Stöpsel ein. Doch – was hat das alles mit Bob Dylan zu tun?
Doktor Fisch
Kaum ist ein*e Musiker*in gestorben und begraben, sind da diese Musikverlage, Plattenlabels und Managements, die aus dem momentanen Aufmerksamkeitshoch schnelles Geld machen wollen: Viele zweifelhafte Posthum-Veröffentlichungen zeugen davon, dass es im Musikgeschäft vor allem um Geld geht, also: Geld für die Platten- und Streamingfirmen. Nicht etwa Geld für die Musiker*innen.
Manche Musiker*innen sagen sich deshalb: Ich nehm das Geld lieber selber, und zwar ruckizucki-dallidalli, solange ich noch am Leben bin! Und regeln die posthume Monetarisierung ihrer Musik-Urheberrechte deshalb immer öfters noch vor dem (eigenen) Tod. Der US-Folk-Altmeister Bob Dylan – quasi der Joe Biden der Musikszene – zum Beispiel hat die Verlagsrechte an einem Teil seiner Songs für geschätzte 300 Millionen US-Dollar an Universal Publishing verkauft (UMG gehört den Konzernen Vivendi Frankreich und Tencent China).
Auch sein kanadischer Kollege Neil Young – quasi der Bernie Sanders der Musikszene – hat vor kurzem einen 50-Prozent-Anteil seiner Verlagsrechte verkauft (50 bis 150 Millionen US-Dollar geschätzter Erlös für ihn). Nicht nur alte, weisse Musiker vergolden mit dem Verkauf ihrer Klassiker die Stossstangen ihrer Cadillacs und Rollatoren: Zuletzt vermeldet die Fachpresse, dass auch der kolumbianische Superstern Shakira – quasi die Kamala Harris der Musikszene – ihre gesamten bisherigen Musikverlagsrechte an den Konzern Hipgnosis verkauft hat – Kaufpreis geheim.
«Verwertung bis zum letzten Ton» nannte – bezogen auf Bob Dylan – der Musikmonopol-Kritiker und Bookingagent Berthold Seliger diese in piekfeinen Investmentkreisen scheinbar gerade ultrahippe Geschäftsstrategie: Kaufe heute, was die Welt morgen streamt. (Woher kommt eigentlich das ganze Investmentgeld?). Alles wird zusammengekauft, es scheint grad so, als wäre das Komponieren und Singen neuer Lieder demnächst verboten.
Zwei Platten auf dem Übergang zwischen Leben und Tod
Was hat das mit Musik aus der Schweiz und mit dem besten Geschichtenerzähler der Alternativen Musikszene, also mit dem viel zu früh verstorbenen Ausnahmekünstler Oliver Maurmann aka Olifr M. Guz zu tun? Nix!
Schon das mit dem «letzten Ton» hat Olifr M. Guz etwas anders gehandhabt, auch wenn es bei ihm, bei uns ja nie um Millionen oder ansehnliche Teile davon ging. Musik bringt Brot, hartes zwar, aber Brot. Reden wir also lieber vom Handwerk der Musik- und nicht der Finanzwelt. Schon mit seiner lebenslangen Haupt-Band, den Aeronauten, sass er mitten im Produktions- und Songwriting-Prozess zum neuen Album, als er im Herbst 2019 nach einem erneuten Herzinfarkt ins Spital musste und nicht mehr aus ihm rauskam.
Die Aeronauten-Platte wurde dann von seinen Band-Mates mit viel Arbeit, Liebe und Demut fertiggestellt (Neun Extraleben ist Ende November 2020 erschienen).
Mit seiner Basler Partnerin in crime, Taranja Wu, hatte Guz auch erst einen Teil der Songs der neuen Naked-In-English-Class-Scheibe fertiggestellt. Im SRF 3 «Sounds!» hat Taranja Wu am Release- und ersten Todestag von Guz (20.1.2021) über diesen schwierigen Prozess der Finalisierung unter dem Einfluss der grossen Trauer gesprochen, der nun zum fünften und letzten NIEC-Album geführt hat. Drei Songs seien im Herbst 2019 fertig gewesen; drei in der Pipeline, unter anderem mit «Pilotgesangsspuren» von Guz; der Rest noch unfertig oder nur skizziert. Elf Songs sind es am Ende geworden, die Taranja Wu in viel Studio-Kleinarbeit und Nach-Instrumentierung in der ersten Phase der Trauer um ihren Partner in eine fertige Form gebracht oder neu geschrieben hat.
So sind im Krisenjahr 2020 gleich zwei Platten entstanden, die den Übergang von Guz' Leben als Musiker in den viel zu frühen Tod im Universitätsspital Zürich markieren. Und beide tun das auf eine sehr lebensbejahende, mutige und laute, unangepasste Art.
«Musik hat mir geholfen bei Atmen»
Der Unterschied vielleicht: Taranja Wu hat alleine im Studio B von Guz' Startrack Studio in Schaffhausen gearbeitet – also ohne Band-Mates, mit denen sie das gemeinsam Eingespielte und Geschriebene hätte sichten und den To-do-Plan oder Sound-Ideen hätte besprechen können. Sie hat die acht von elf Songs allein an ihr Ende gebracht. «Dass ich in den gleichen Räumen kreativ sein konnte, in denen Oli und ich auch schon oft waren, hat mir sehr geholfen, das Album fertigzustellen», meint Taranja Wu auf unsere Nachfrage. Der Mix der neuen Aufnahmen, die Guz nicht mehr erleben konnte, erfolgte dann in St. Gallen.
Mitten in der Solo-Fertigstellung des NIEC-Albums war dann auch noch George Floyd von Polizisten in Minneapolis auf offener Strasse umgebracht worden. Die Black-Live-Matters-Bewegung ging auch in Europa, auch in der Schweiz auf die Strasse, während Taranja Wu wiederum durch die schmerzhafte Zeit des Verlusts ging. Schliesslich eröffnet nun ihr Track «I Can't Breathe» das fünfte Album des Duos, und es fasse ihr Jahr 2020 mit all seinen schwierigen Zeiten gut zusammen. «Musik hat mir geholfen bei Atmen», sagt die Musikerin in der Sendung «Sounds!».
«I Can't Breathe» nimmt musikalisch auch gleich die ganze Platte vorweg: Hier gehts mächtig in die Knie und wieder in die Hüfte. Wieder gibt es Covers Deluxe von Songs aus dritter Feder. Vier Songs sind vom Duo selber, zwei davon hat Taranja Wu allein eingespielt. Prominenteste Band, die ein Remake eines ihrer Songs erfährt, sind Hüsker Dü, die 80ies-Antihelden der so fruchtbaren US-Punk & Alternative-Rockszene der ersten und besten DIY-Generation. Hier die Remake-Version 2020 des Klassikers «Do The Bee» von Taranja Wu und Olifr M. Guz:
Liebevoll primitiv gehaltener Sound für alle Lebenslagen
Beim neuen Album von NIEC dominiert ein kompakter, öfters mal verzerrter Electro-Strobo-Proto-Garage-Punk, sehr liebevoll primitiv gehalten mit fräsenden Gitarren, pflügenden Synthie-Bässen und pumpenden Drum-Computer-Drescheinheiten im obersten Regler-Bereich. Die durch die Effektgerätesammlung gejagte Stimme von Taranja Wu ist ein anderes Markenzeichen des Albums, das frischer, echter und auch atemloser klingt als diese auf Bescheidenheit, Rückzug und Einkehr getrimmten und doch peinlich überproduzierten Lockdown-Produkte der etablierten Musik- und Unterhaltungsindustriegeschäftspartner*innen im sponsorenkonformen Familienformatradiokleid.
Punk im Geist dagegen bei NIEC: «Schliesslich werden hier keine Songs gecovert, sondern Attitude», stand hier bei der Besprechung des dritten Albums von Naked In English Class. Und so ist es geblieben, bzw. hat sich zu wertsteigernden Remakes und Upcyclings von Songs aus der Mottenkiste der Populärmusikkultur hochgebretzelt: Musikhistorischer Nerdism für alle Lebenslagen, der – trotz der schwierigen Bedingungen der Entstehung – teuflisch viel Spass machen kann und manchmal fast schon zu überkandidelt aus den Boxen des runtergeschossenen bzw. eingeschlossenen Schlafzimmers aka «Home Office» geschreddert kommt. Ruhigere Coversongs wie etwa «When Doves Cry» (Prince) vom ersten Album suchen wir hier vergebens.
Bekennende Guzianer und ausserirdische Fantasiezonen
Der Ostschweizer Journalist und bekennende Guzianer Marcel Elsener bringt die Musik von Naked In English Class am besten zu Papier: «Ihr Sound (scheint) aus einer ausserirdischen Fantasiezone zu kommen; aus einem energiesaugenden Universum, das verdampfte Wellen kreativer Schübe sammelt und in wilden Blitzen wieder auf die Erde schmettert.»
Mit Yello gesprochen: Oh yeah! Und unten stehen dann wir und verrenken unsere eingerosteten Glieder auf gar seltsame Weise und manche nennen das dann – beginnende bis fortgeschrittene krasse Fehleinschätzungen des Selbstbildes im Bezug zur realen Aussenwirkung bei Menschen in Ü50-Körpern – «Tanzen», na ja. Doch zurück zur Musik:
«Ramble And Roam» stammt im Original von der Westcoast-Kuhpunker Blood On The Saddle und kommt bei NIEC als flotter Big-Beat-Galopp samt Cowboy-Jodler durch die kreisrunde Rodeoarena dahergeschlittert. «Who's Been Taking My Place» stammt im Original von den Masonics, einer Band, die klingt wie ein Doc-Martens-Fusstritt der Roaring Sixties, tatsächlich aber recht aktuell von England aus die übriggebliebene Arbeiter*innenklasse beschallt. NIEC machen daraus einen speed-punkigen Beat-Stomper. Irgendwo schaffen es die beiden Englischklässler*innen, aus einem eh schon nerdigen Underground-Ding ein noch viel undergroundigeres Underground-Ding zu machen.
Fulminante Tanzplatte mit düsteren Ausflügen
«Hollow Boy Hollow», inspiriert vom legendären Song «What's Inside A Girl» (The Cramps) dreht den Spiess für einmal um und fragt: What's inside a boy? Und zitiert gleich auch noch Little Richard. Dies mit einem fiepsig-knarzigen Sound, der uns glatt den Dreck unter den Fingernägeln wegsandstrahlen täte. Nichts für zarte Ohren!
Dann wird’s dunkler: «E29» ist ein Industrial-Instrumental und klingt so düster und befremdlich wie eine Reise in die tiefliegenden Eingeweide der Erde. Der Track «Mothlight» nimmt diese irrlichternde, einkapselnde Stimmung wieder auf und lässt einen nach dem Ausflug etwas verstört zurück und erinnert daran, dass es nicht selbstverständlich ist, diese Songs überhaupt noch jemals hören zu können.
Als Abschluss dieser – insgesamt eben doch auch und vorerst mal – Wohnzimmertanzplatte bringt «Where Were You» die britisch-amerikanischen Grossmeister des reduzierten Country-Punk & Rock'n'Rolls zurück (genau: The Mekons). Und mit «do you like me?» im Duett geht es mit wummrigem Electro-Blues zu Ende mit dieser Platte und zu Ende mit dem schaffhauserisch-baslerischen Duo Naked In English Class.
Die Liebe zur Musik, die Liebe zueinander, und dieses ganz spezielle Etwas, das nur Duos hinkriegen, das ist und war Naked In English Class und für einmal ist nicht das Coronavirus der Grund, warum keine Live-Plattentaufe angesetzt ist.
Naked In English Class – selftitled
(Ikarus Records Zürich) ist am 20. Januar 2021 als CD, LP und digital erschienen und im guten Fachhandel, über Bandcamp oder direkt über das Label erhältlich.