Varuna – Mangrove Management: Green Techno
Das Doppelvinyl-Album des Electronica-Kollektivs Varuna ist ein aussergewöhnlich dichtes und organisches Werk, das unterhaltend und aufklärend zugleich wirkt. Mit Ambient-Sounds, Abstract Techno und repetitiven Downtempo-Beats entführt uns die Varuna-Crew tief hinein in die unbekannte Welt der Mangrovenwälder. Wir verlosen eine Doppel-Vinyl.
Doktor Fisch
Elektronische Musik ist meist mehr als die Summe ihrer Klänge. Sie hat und hatte schon immer ein viel grösseres Potential. Mal gibt sie sich futuristisch, um die Zukunft zu ändern, mal agiert sie forschend und intellektuell, um die Gegenwart zu untersuchen, und natürlich agiert sie auch ganz simpel als Anheizerin für Körper und Seele, im Club (leider gerade nicht) oder an der frischen Luft (auch nicht, es regnet gerade). Abseits vom hedonistischen Dancefloor haben Electronica und Techno am Rande immer auch die wissenschaftliche oder avantgardistische Herangehensweise vorangetrieben und damit mehr angestrebt, als nur Popkultur für die Masse abzubilden. Es geht und ging immer auch um die Suche nach Lösungen.
Das Produzenten-Kollektiv Varuna aus Basel und Allschwil – samt dem eigenen Label A Walking Contradiction (ein wandelnder Widerspruch) – gehört sicher zu jener Szene, die elektronische Musik auch als Kunstform mit dem Fokus auf und der Forschung an dringlichen ökologischen, sozialen und politischen Themen verbinden will. Und auch tut. Verkürzt gesagt: Pop, Politik, People, Planet. Es lässt sich vieles gemeinsam denken. Belehren will uns Varuna aber nicht, sondern miteinbeziehen, Interesse generieren.
Musik wie von der Natur selber gemacht
Der Doppelvinyl-Release Mangrove Management ist bereits der dritte in einer beachtlichen Reihe von Konzeptalben, die alles andere als verkopft oder akademisch klingen. Das Ökosystem der Mangrovenwälder behandeln die Producer von Varuna auf vielschichtige Weise, einerseits in Textform, andererseits als musikalischer Raum.
Apropos Raum: Dass die Varuna-Crew aus der Clubwelt kommt, zeigt allein schon die Liste ihrer Auftritte und Sets in den Basler Clubs Hinterhof, Nordstern, Kaschemme, Renée und Elysia oder auch im HeK und ausserhalb der Region. Dies nur am Rande, schliesslich ist gerade Corona-Time, die Clubs sind zu. Also starten wir den Plattenspieler.
Mangrove Management ist eine ziemlich deepe Angelegenheit. Schon der erste hypnotische Track auf der 12-Inch (der zweite Tonträger ist eine 10-Inch) legt einen flach auf die Erde bzw. auf die salzige Wasseroberfläche, um die volle Dichte der Geräusche aus dieser Ambient-Welt aufnehmen zu können.
«Rhizophora» dringt mit uns zehn Minuten lang in eine Welt ein, die zuerst fremd und verwirrend klingt: seltsame Rufe von Affen oder Vögeln oder anderen Tieren vermischen sich mit weiterem Gekrabbel, Geklacker, Gekreuch und Gezische. Doch bald steigt ein perkussiver Beat aus der Tiefe empor, der Herzschlag des Mangrovenwalds sozusagen, und irgendwann hebt uns ein dubby Flügelschlag über die Wasseroberfläche, über den Wald in die Höhe. Aus abstrakt wird konkret, aus Umzingelung wird Befreiung. Die drei ersten Tracks hören sich tatsächlich so an, als hätte die Natur selber die Komposition übernommen. Field Recordings unter Wasser.
Aus diesem ersten langen Track führen uns zwei weitere über die Landschaft: «Culex Sitiens» (ganz unwissenschaftlich: eine fiese Stechmücke, die Viren überträgt, Hilfe!) reitet einen feinen Downtempo-Dub, während «Avicennia» (eine Strauch-/Baumart der Mangrovenwelt) wieder fröhlich blubbert und zischelt und nach salziger Unterwasserwelt schmeckt. Allen Tracks gemeinsam ist die manchmal überwältigende Vielfalt an Klängen und Geräuschen, die aus diesem erstaunlichen Release eine Art Öko-Ambient oder GreenTechno – im besten Sinne der Worte – machen. Close your eyes!
Natur und Technik als Gegenspieler*innen
Die 10inch wird übrigens auf 45 Touren gespielt (klingt aber auch auf 33 inspirierend) und versammelt zwei Dancefloor-Tracks mit repetitivem, perkussivem Groove. Ob als Kontrapunkt zur ersten LP oder als Beleg für die Mehrschichtigkeit jeglicher Existenz oder als Hinweis auf den grossen Gegenspieler der Natur – die Technik der menschlichen Rasse nämlich – geschenkt: Mangrove Management ist ein Album, das viele Fährten verfolgt und neue legt, auf denen wir gerne weitergehen können, hörend, lesend, denkend. Und hoffentlich, irgendwann, auch heilend für den verdammten Planten.
Der Text auf der Hülle der 10-inch-Scheibe handelt vom bedrohten Ökosystem der zum Teil riesigen Mangrovenwälder entlang der Küsten, zum Beispiel, des Golfs von Bengalen (Sundarban). Es geht um den Klimawandel und die Folgen für diese Wälder und Lebensgebiete, um die Gewinnung von Holzkohle aus Mangrovenholz, um die gigantische Menge an CO2, die in diesen Wäldern gebunden ist – und bei Übernutzung natürlich freigesetzt wird –; um den Küstenschutz, den die Mangrovenwälder bilden, vor Tsunamis etwa; um Pier Paolo Pasolinis prophetisches (und hochaktuelles) Migrations-Gedicht «Prophecy» (1964), um die Entwicklung der – gemäss Caitlin Rosenthal – ersten Management-Systeme in den Sklaven-Plantagen der Kolonialmächte (da liesse sich streiten: siehe die Planung und Ausführung der ägyptischen Pyramiden), und überhaupt.
Verantwortlich für Texte und Konzept des Albums ist ein Basler Konzeptkunstschaffender, der unter Dead Electronic Space Ltd. auftritt. So trägt das Cover der LP denn auch Ausschnitte¹ eines Textes von Stefano Harney und Fred Moten, zwei Kunsttheoretikern, die das vollständige Essay «Base Faith» im Journal #86 der Kunst- und Publikationsplattform e-flux.com veröffentlicht haben. Mehr dazu dort. Gestaltet hat die Mangrove Management-Welt der Basler Designer eana/Simon Lemont.
¹ «Down where it’s greeny, where it’s salty,
the earth moves against the world under the undercover of blackness,
its postcognitive, incognitive worker’s inquest
and last played radio.»
Varuna – Mangrove Management
(A Walking Contradiction Records, Basel) ist am 1. März 2021 als Doppel-LP und digital mit einem Beitrag des RegioSoundCredit des RFV Basel erschienen. Erhältlich über Bandcamp, über Clone in Holland sowie im Plattenladen des Vertrauens.
Verlosung des Doppel-Vinyls
Der RFV Basel verlost eine Do-LP von Varuna. Teilnehmen: E-Mail an den RFV senden. Es wird keine Korrespondenz geführt.
Make Some Room
Varuna sind auch auf dem Sampler Make Some Room: Electronic Relief in Switzerland vertreten, den die CH-Club- und Technoszene im erste Corona-Lockdown als Selbsthilfe veröffentlicht hat.