KimBo - Twerkaholic: Glitzer, Party, Gesellschaftskritik & Rebellion
Gelato, Openairkino, Tropennächte am Fluss mit den Liebsten – das sind die Erinnerungen, an die wir uns klammern, wenn der Sommer langsam zur Neige geht und die Kälte wieder anklopft. Wir erinnern uns an Höhen und Tiefen, fragen uns, wann das nächste Highlight kommt, mit dem wir durch den Winter fliegen, wo doch gerade schon genug anderes auf der Erde passiert. Kim Bollag alias KimBo hingegen setzt direkt wieder zum Höhenflug an.
Lea Schlenker
Bescheidenheit ist eine Zier, aber sicher wenig hilfreich, wenn es darum geht, eine EP auf den Markt zu bringen. Wobei Kommerzialisierung bei der Produktion dieser Platte vermutlich keine primäre Rolle gespielt hat. Twerkaholic, die neue EP der Künstlerin und Nachfolgewerk ihres ersten Longplayers Pangolin (damals das letze Review 2020), scheint in einem entspannten, kreativen Flow mit unterschiedlichen musikalischen Einflüssen entstanden zu sein.
Produziert von Till Ostendarp aka DJ Real Madrid und der Zürcher Komponistin und Gitarristin Franziska Staubli, mit Beats von Alessandro Hug aka Al Hug Beats, fasst die Platte verschiedene Stimmungen, Gefühle, Inspirationen und Gedanken zu einem Werk zusammen. Wenn sich Kunst in Bildern und Metaphern abbilden lässt, dann ist das bei KimBo Glitzer und Party, aber auch Sommer und Roadtrip, Motorrad und Geschwindigkeit.
KimBo übernimmt das Steuer
Ob Reggaeton- Latin- und Trap-Beats, ob verspielt oder selbstbewusst, ob Tanzfläche oder gemütlich zuhause neben der Balkonpflanze: KimBo übernimmt das Steuer. Auf einem pinkfarbenen Bike düst sie über den Gotthardpass an eine Rooftop-Party im Kreis 4, nimmt ihre Zuhörerschaft mit zu einem gemütlichen Sonntagnachmittag mit Boombox und Sangrias am Rhein und schafft es dann aber noch rechtzeitig, mit wuchtigen Beats die Clubstimmung einzuleiten. Das ist KimBos musikalisches Ich, wie wir es schon aus ihrem bisherigen Repertoire und ihrem Debütalbum Pangolin kennen, das 2020 bei NoHook veröffentlicht wurde: Die Mischung aus Sommer und starken Drinks, bequemen Sneakers am Tag und hohen Absätze am Abend, spielerisch und frech, aber auch unheimlich stark und feministisch.
Leidenschaft statt falscher Bescheidenheit
Das zeichnet sie auch im Business aus: 2019 steuerte sie mit Mir streiked den offiziellen Song zum Streiktag am 14.6.2019 bei. Es folgten Interviews mit ihr, die sie als starke weibliche Stimme in einer sonst so männerdominierten Branche zeigen. Die gebürtige Zürcherin, die im Tessin aufgewachsen ist und derzeit in Basel lebt, ist allerdings nicht nur feministische Aktivistin, sondern auch Künstlerin, Texterin, und eine wichtige musikalische Stimme in der Schweiz.
KimBo schafft den Spagat zwischen tanzbaren Melodien und wortgewaltigen Lyrics wie es nicht alle in dieser Branche schaffen. Die Rapperin, die in ihren Songs ungezwungen zwischen Zürideutsch und Italienisch switcht, repräsentiert mit ihren Texten genau die Portion Sisterhood, die wir alle derzeit so dringend brauchen. Anstelle falscher Bescheidenheit predigt sie ihren Mitmenschen – und vor allem auch ihren Schwestern - Leidenschaft, Mut, Kreativität und keine Angst davor zu haben, für die eigene Meinung und Träume einzustehen.
Selbstbewusste Statements
Boss Bitch ist der Song, den wir vor der Lohnverhandlung aufdrehen, Ich lah mer Zit überbringt uns die Message, uns selbstbestimmt Zeit zu nehmen für uns und unsere Ziele. Ein selbstbewusstes Statement gegen die Hustle-Culture, auf die wir wohl alle keine Lust mehr haben.
Bounce läuft im Hintergrund, während vor dem Spiegel der Lippenstift nachgezogen wird, als Vorspiel einer durchzechten Nacht mit den besten Freund*innen. Was andere denken spielt keine Rolle, die Welt gehört für einige Stunden nur uns. KimBo vergisst auch nicht, in ihren Lyrics der Gesellschaft auch mal kritisch den Spiegel vorzuhalten. In Gira kritisiert sie die Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit unserer durch permanente Social-Media-Aktivitäten veränderten Interaktionen und in Ich lah mer Zit wird die Kapitalisierung der Kunstbranche als Industrie angesprochen.
Überbrückung zur nächsten Openairsaison
Wenn sich Kunst in Bildern und Metaphern abbilden lässt, dann ist das bei KimBo zwar Glitzer und Party, Sommer und Roadtrip, aber auch Ernsthaftigkeit und Gesellschaftskritik, Rebellion und Tanzfläche. Also all das, was wir brauchen, um die Zeit zu überbrücken, bis die nächste Openair- und Gelatosaison wieder vor der Tür steht.
KimBo – Twerkaholic
Die EP ist am 28.10.22 bei ClitHit erschienen und auf den gängigen Streamingplattformen zu hören. Unterstützt durch einen Beitrag aus dem RegioSoundCredit 2022/2
Produziert von Al Hug, Till Ostendarp & Franziska Staubli
About Lea Schlenker
Lea Schlenker, geboren 1992 in Zürich, schreibt Lyrik und Prosa, ihr erster Gedichtband „Eine Auswahl an Fluchtmöglichkeiten“ ist 2020 im Aphaia Verlag erschienen. Sie ist zudem Mitgründerin des „Kollektiv Kitzeln“, das unter dem Motto „Bühne, Brüste, Backstein“ eine feministische Lesebühne in Bern organisieren. Derzeit hört sie am liebsten Talking Heads und das neue Album von Rosalía.