Schammasch - The Maldoror Chants: Old Ocean: Kathartisch, kreativ, kraftvoll

«The Maldoror Chants» beziehen sich auf das literarische Werk des 19. Jahrhunderts «Les Chants de Maldoror» von Compte de Lautréamont, welches Schammasch bereits 2017 als Inspiration für die EP «The Maldoror Chants: Hermaphrodite» gedient hat (hier Review nachlesen). Das einzige Werk des Dichters gilt als eines der radikalsten Werke der abendländischen Literatur und hat den Surrealismus massgeblich mitbeinflusst. Im Zentrum steht der dunkle Held Maldoror, ein «schwarzer, zerschmetterter Erzengel von unsagbarer Schönheit“ (Maurice Maeterlinck), der die misanthropische Philosophie des Autors verkörpert. Der Autor setzt der Abscheulichkeit der Schöpfung, dem Menschen, die Herrlichkeit des Ozeans entgegen, und lobt diesen in einer Hymne – der Kern für die Inspiration für «The Maldoror Chants: Old Ocean».

«Crystal Waves» eröffnet das Album mit zarten, melancholischen Gitarrenklängen und hypnotischem Sprechgesang, zwei Elemente, die sich auf dem Album immer wieder finden, um dann in eine mächtige Welle von mystischen Klängen und cleanem Gesang überzugehen. Auf dem gesamten Album beeindruckt die stimmliche Bandbreite von C.S.R, der von tiefen Growls und sonorer Sprechstimme bis zu druckvollem Chant und melodiösem, erhabenem Cleangesang sein gesamtes Repertoire ausschöpft. Dies trägt dazu bei, dass das Album trotz erstaunlicher Kohärenz sehr abwechslungsreich bleibt. Der Song entwickelt sich organisch in unerwartete Richtungen, und bringt das Gefühl eines majestätischen Ozeans mit sich wiederholenden fraktalen Wellenmustern mit treibendem Rhythmus und weichen, tragenden Gitarrenmelodien in eine harmonische Einheit.

Mit «Your Waters Are Bitter» beschreiten wir dann etwas härtere Gefilde mit einem leicht disharmonischen, diabolischen Gitarrenlead und einer extremeren Vocal Range, welche an manchen Stellen in stark verzerrte Klangcollagen ausbricht. Auch hier ist wieder der dunkle Herzschlag zu spüren, der durch das ganze Album wahrnehmbar ist und das Werk trotz vermeintlichen Stilbrüchen und komplett unerwarteten Wendungen homogen wirken lässt.

Klassische Song-Strukturen waren bei Schammasch in der Vergangenheit nie ein grosses Thema, daran ändert sich auch auf «Old Ocean» nicht viel. Auf klassische Rock/Metal-Konventionen wird fast gänzlich verzichtet. So sind alle Songs mit Ausnahme der Interludes «A Somber Mystery» und dem zarten, melodischen «Image of the Infinite» um die zehn Minuten lang oder länger.

Etwas, was Schammasch schon immer den meisten anderen Bands voraushatte und immer noch hat; ihre visuelle Ästhetik steht der Detailverliebtheit ihrer Musik in nichts nach. Dies bezieht nicht nur den Look der Band bei der Live-Performance mit ein, der sich für dieses Album auch mitgewandelt hat, sondern auch das visuelle Design der Alben, das Merchandise der Band, den Webauftritt und vor allem auch die visuelle Repräsentation der bereits veröffentlichten Album Singles in aufwändigen CGI-Videos.

Die eigens von C.S.R unter seinem Künstler-Pseudonym «Eye of Saros» kreierten Videos zu «They Have Found Their Master» und «Image of the Infinite» sind bildgewaltige Statements, welche auf eindrückliche Weise den Aufwand untermalen, den Schammasch in all ihr Schaffen investieren. Die Musik spiegelt sich in der visuellen Umsetzung und umgekehrt – ornamental und dennoch minimalistisch, roh und filigran zugleich. Schammasch vereinen diese Gegensätze meisterhaft und scheinbar mühelos. Die Songs scheinen etwas Tiefliegendes in einem zu berühren, sie sind viszeral und kathartisch, melancholisch und majestätisch. Die Weite und Kraft des Ozeans wird als Bild für die Grösse der Natur dem irrelevanten Wesen «Mensch» entgegengesetzt, das Verlangen nach Transzendenz und Grenzerfahrung ist deutlich spürbar und durchdringt das Werk.

Schammasch entwickeln sich mit «The Maldoror Chants: Old Ocean» authentisch und ausserordentlich kreativ weiter, jenseits von Genregrenzen und dennoch mit viel Gespür für Balance und Harmonie. So liefern sie ein kohärentes und harmonisches und dennoch sehr abwechslungsreiches und eigenständiges Album voller Details und Tiefe, das einem mitreisst und abtauchen lässt. Grossartig und wegweisend – wenn jemand das Label «Avant-Garde Metal» verdient hat, dann Schammasch.

Lucy ist seit über 15 Jahren in der Schweizer Musikszene unterwegs, sei es als Vokalistin bei verschiedenen Metal-Projekten oder hinter den Kulissen bei Events, Vereinen und Verbänden.