Gina Été – Prosopagnosia: Awareness und Aktivismus

Reviews

Auf ihrem zweiten Longplayer mischt GINA ÉTÉ kunstvollen Pop mit Selbstdiagnose und politischen Anliegen. Mit dem Resultat, dass sich die zehn Songs intim, nicht mehr ganz so zerbrechlich und entsprechend stark präsentieren. Was Musik mit grosser Sogwirkung ergibt.

Album Review

Immer schön der Reihe nach: 2019 trat GINA ÉTÉ mit ihrer EP «Oak Tree» an die Öffentlichkeit, zwei Jahre später veröffentlichte sie ihren ersten Longplayer, «Erased By Thought». Auf diesen lässt sie nun ihr neues Album «Prosopagnosia» folgen. Ein Zungenbrechertitel und Bekenntnis zugleich: Die ausgebildete Bratschistin, die auch singt und Piano sowie Synthesizer spielt, steht damit zu ihrer Unfähigkeit, Menschen anhand ihres Gesichtes zu erkennen. Parallel dazu stellt sie sich die Frage, ob sich diese Diagnose statt als Krankheit allenfalls auch als Geschenk oder Gabe lesen liesse. Schliesslich, so die Musikerin, lerne man Menschen auf diese Weise immer wieder neu kennen und könne ihnen folgerichtig ohne Vorurteile und Rassismus begegnen.

Aktivismus und Awareness

Was offenbart, dass die Kunst von GINA ÉTÉ nicht zuletzt von Aktivismus und politischer Awareness angetrieben wird. Was sich auch in den zehn neuen Tracks widerspiegelt: Während das sanft pulsierende «Love to Work», das sinnierenden Sprechgesang mit sirenengleich Vocals kontrastiert, nicht nur Care-, sondern auch Sexwork thematisiert, zeigt sich das von Streichern und zarten Synthesizern geprägte «The Bet» mal sehnsüchtig, mal bereuend und hoffend:

«I’ve never wanted any of us to hurt,
I’ve always hoped the memories would get blurred».

Das ist keine simple Kost, vielmehr offeriert die Zürcherin, die für Sophie Hunger oder Panda Lux auch schon Streicherbesetzungen arrangieren durfte, herausfordernden Hybrid-Pop, der sich nur scheinbar einschmeichelt, aber in Tat und Wahrheit gerne zubeisst. 

GINA ÉTÉ - Your Opinion (official lyric video)

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Mit Beats statt Rock-Drums

Im Vergleich mit ihrer 2021er-Platte klingen die aktuellen Songs insgesamt etwas weniger fragil. Was sich unter anderem darin manifestiert, dass sich die Beats, die anstelle der guten alten Rock-Drums getreten sind, spürbar unnachgiebiger und härter gebärden. Wozu auch passt, dass sich die zehn Nummern von «Prosopagnosia» einiges ungeschönter und rhythmisch herausfordernder präsentieren. Wo der Vorgänger und dessen Lieder – wie etwa «For Elsa» – mitunter noch ans Schaffen von Sophie Hunger erinnerten, gehen Stücke wie das tranceartige «La Joie (au bout d’un moment)» oder «Blindside», das düsteren Trip Hop mit stellenweisen Aufhellungen bietet, ihren eigenen Weg. Kleiner Nebeneffekt der marginal neu ausgerichteten Musik: Anders als auf «Erased By Thought» bedient sich GINA ÉTÉ in erster Linie der englischen Sprache und greift nur noch vereinzelt auf Deutsch und Französisch zurück – schade, eigentlich.  

Zunehmende Sogwirkung

«Prosopagnosia» ist kein Album, das sich sogleich erschliesst und einlullt. Obschon es mit «F***you:you» eine Ausnahme gibt: Der Song, ein Abgesang auf das Patriarchat, erweist sich als wuchtig, effektiv und geradezu hypnotisierend. Und hat Hit-Potenzial, vielleicht nicht für die grosse Bühne, aber zumindest für die eingeschworene Fangemeinde. Fakt ist: Je stärker man sich diesem Werk widmet, desto mehr gibt dieses zurück: Die Liedkollektion voller fluider Einflüsse aus Indie-Pop, Jazz und Klassik entfaltet nämlich mit jedem weiteren Hördurchgang eine zunehmende Sogwirkung. Eine, der man sich weder entziehen kann noch möchte.

GINA ÉTÉ - Prosopagnosia, 2025
GINA ÉTÉ - Prosopagnosia, 2025

GINA ÉTÉ - Prosopagnosia

Das Album ist am 7. Februar 2025 bei Backseat erschienen. Zu kaufen gibt es die Platte auf Bandcamp. Die Platte wurde unterstützt durch den RegioSoundCredit 2023/2.

Live

  • 5.3.2025 Helsinki, Zürich
  • 7.3.25 Neubad, Luzern
  • 8.3.2025 Gannet, Basel (mit Meimuna) TICKETS
  • 15.3.2025 Mokka, Thun

Gina Été

Gina Été © Nina Maria Glahé 2021
Gina Été © Nina Maria Glahé 2021
04/07/2023

Beiträge
9 000 CHF | RegioSoundCredit Tonträger, Musikvideo | 2023
5 000 CHF | RegioSoundCredit Tonträger | 2019
3 000 CHF | RegioSoundCredit Musikvideo, Tournee | 2019
4 000 CHF | RegioSoundCredit Tournee | 2017
5 000 CHF | RFV-DemoClinic Analog Coaching | 2017

About Michael Gasser

Hat seine Liebe zur Musik mal zu seinem Job gemacht und beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit Pop, Rock und Folk. Der frühere Surprise-Chefredaktor und Redaktionsleiter des Kulturmagazins «041» gehört heute dem Pressebüro Kohlenberg in Basel an, wo er mehrheitlich für Behörden und Unternehmen textet – ganz vom Musikjournalismus mag er aber nach wie vor nicht lassen.