Mangene - 101 Atomic Terms and What They Mean: Schrödingers Katze gibt sich Hardcore

Eigentlich sollten diese folgenden Zeilen keine Meditation zu Hardcore Punk werden und dennoch ist es unumgänglich. Als Genre und als Lebenshaltung verortet es sich [Hardcore Punk] in extremster Kompromisslosigkeit. Wir vollführen schwitzige, blutige, ja primitive Bewegungen. Wir flüchten uns in Konfrontation: mit unserer Umgebung, unserer Umwelt, unseren Körpern und Mitmenschen. Das Resultat ist meistens alles andere als schön, eher berauschend und brutal, und trotzdem wird gewissermassen ein Punkt der Transzendenz erreicht. Wir eifern danach, ein Extrem zu erreichen, um vielleicht ein kurzweiliges Zeichen zu setzen: Ja, wir waren hier, wir sind kurz aufgeflammt und sofort wieder ausgebrannt. Verdrossene Motten hin zum Feuer der so bedeutungsvollen Kurzlebigkeit. Zu Recht stellt sich die Frage: What does it matter?

“We're both egomaniacs and have been doing this for a long time, so the chances of us sounding like anyone else were probably zero.” Eugene S. Robinson

Die beiden Player des neuen Projekts Mangene heissen Manuel Liebeskind und Eugene S. Robinson, und auch wenn sich beim Hören der Tracks erstmal grosse Texturen an Soundfeldern auftun, mit ihren schwer zu beziffernden Horizonten und diffuser Weitläufigkeit, lohnt sich erstmal ein Blick auf die musikalischen Vermächtnisse der beiden Herren mittleren Alters. Da wäre in der einen Ecke des Ringes, der sanftmütige Wahlberliner und von A Tree In A Field als «Tech Genius» bezeichnete Manuel Liebeskind. Viel Zeit ist vergangen, seit er in den 1980er Jahren die Basler Dark Wave Band The Silence Cries mitbegründete. Seither arbeitete er mit Leuten wie Marian Gold (Alphaville), Jaki Liebezeit (Can) oder Peter Brötzmann zusammen und schmeisst zusammen mit Alex Buess (16-17) das post-industrial, experimental Label Skin and Speech, welches zwar schon in den 1980ern seinen Anfang hatte aber dann bis 2020 pausierte. Turns out: Dekaden-übergreifende Zeitsprünge gehören bei Mangene zum Guten Ton…

In der anderen Ecke des Ringes, der U.S. amerikanische Kampfsportler, Sänger und Lyriker Eugene S. Robinson, welcher eloquent und angriffslustig, bereits früh ein Flair für musikalische Dramatik hatte (kürzlich erschien ein von ihm verfasstes Memoir, u.a. über das Aufwachsen in New York und Zuflucht in der kalifornischen Hardcore Punk Szene). Nachdem ihm das Debütalbum seiner Band Oxbow beinahe das Leben kostete, veröffentlichte die Band zwischen 1989 und 2023 ein bemerkenswertes Œuvre an (Art)Rock Musik, welche stets die Nähte des Genre-Korsetts aufzureissen vermochte. Im Juli dieses Jahres lösten sie sich auf.

“If, in 2024, you're still creating the same hardcore music you made in 1985, how do you stay connected to it emotionally? I’d assume you've evolved to feel differently about things by now." Eugene S. Robinson

Im Fluss der Zeit verändern wir uns ständig, dennoch mag ein Stück unseres frühen Selbst in uns weiterleben. Manchmal kommt es vor, dass wir plötzlich in frühere Versionen unseres Selbst hineinkatapultiert werden, ob wir wollen oder nicht. Psycholog:innen nennen dieses Phänomen womöglich emotionale oder somatische Regression und setzen es gleich mit Traumata Bewältigung. Es gibt aber auch sehr abgeschwächte Versionen dieser Sensation: Wenn wir uns während einer Highschool Reunion wieder im Gehirn unseres Teenie-Selbst wiederfinden und plötzlich wieder altbekannten Dynamiken und Mustern ausgesetzt sind. Ein unbequemer Zustand. Auch bei der Fertigstellung des Mangène Albums war Eugene S Robinson in seinen Headspace von anno 2004 zurückgeworfen worden.

Die beiden Musiker, Eugene S Robinson und Manuel Liebeskind kannten sich zum damaligen Zeitpunkt schon ziemlich gut, waren zusammen auf Tour (Oxbow, siehe Video) und hatten mit The Smoking Word ebenfalls ein gemeinsames musikalisches Projekt. Als sie mit den Aufnahmen, was nun als 101 Atomic Terms and What They Mean geboren wurde, begannen, war Eugene S Robinson auf der Suche, seine Stimme anderweitig einzusetzen. Wo vorher lautes Gebell, virtuoses Gekreische, Unmut, Sex oder persönliche Offenbarungen im Zentrum der Songs standen, wird hier eine andere Passhöhe angepeilt. In «The Amber of Heaven» hört man die Stimme nun flüsternd, wie ein abstraktes Insektenrauschen wird sie weniger zum Organ, als zu einem lyrischen Klanginstrument heruntergebrochen. Heruntergebrochen auf atomare Ebene?

“The beginning of this project involved going back to the very basics of music—rhythm—and building from there. On top of this foundation, I added an instrumental layer with relatively simple instruments. It’s this idea of returning to the atomic elements of music." Manuel Liebeskind

Inhaltlich würde es Eugene S. Robinson um Veränderungen, Gleichzeitigkeit und um die Apokalypse gehen. Der Albumtitel bezieht sich auf eine gleichnamige Wissenschaftslektüre aus dem Atomaren Zeitalter, welche auf die 1950er Jahre bezogen, symptomatisch für eine neue Ära der Menschheitsrechnung gesehen werden kann, wo Auslöschung und Erschaffung doch so nahe beieinander liegen. Die Unverständlichkeiten dieser, damals neuen technologischen Errungenschaft, oder die neu gewonnene, kaum erfassbare neue Realität steckt als Motiv auch in der Musik von Mangene. Mit einem proto-futuristischen Instrumentarium der 1980er Jahre legte Manuel Liebeskind bereits vor 20 Jahren den perkussiven Grundstein. Zur Verwendung kamen Synthesizers wie ein Roland Jupiter 4, ein MC-202 oder auch ein TR-707, welches wiederum eine günstigere Roland drum-machine sei, erzählt der Soundtüftler. Nach den üblichen Wendungen und Wirrungen von everydaylife (Touren, Familien, Umzüge) war es schliesslich ein weiterer Basler, S & S Labelkollege Alex Buess, welcher darauf bestand, dieses Album zu mastern und endlich fertig zu stellen – was schliesslich in Parallelarbeit zueinander passiert ist.

Seit bald hundert Jahren sagt uns die Quantenphysik, dass subatomare Partikel in mehreren Orten gleichzeitig existieren können. 1935 stellte Erwin Schrödinger das berühmte Gedankenspiel zu Quanten-Superposition vor, - die Kiste mit der gleichzeitig lebendigen und toten Katze. Was damals blosse Theorie war, wird nun als immer wahrscheinlicher erachtet (?!). Und wo wir als Musik Connaisseur*innen gerne mal Genres festlegen oder Sachverhalte eindeutig erklären wollen, müssen wir uns gesellschaftlich wohl eingestehen, dass die Grenzen offen, um nicht zu sagen, fluide sind. Wo vergangene Aufnahmen, Stimmen und Identitäten (sprich: verschiedene Ideen) zur selben Zeit im selben Raum stehen können (sprich: existieren), ist eine rationale Annäherung oder emotionale Distanzierung nicht mehr singulär und ausgeschlossen, sondern im Gegenteil, sogar weiterführend. Es ist dies ein Non-Dualismus, wo Hardcore Punk Musik nicht mehr nur ein Faustschlag ins Pogo-tanzende Gesicht des Gegenübers sein muss, sondern auch so etwas wie ein verqueres Flüstern, eine synthetisierte Synapse, oder ein vier Track langes Album in Dauerschlaufe sein kann. Ein singuläres Klangerlebnis anhand einer unmittelbaren Gleichzeitigkeit von Dingen, basierend auf ziemlich vielen, atomaren Partikeln und Wellen. Ist dies vielleicht der Schlüssel zu einer wirklich, schönen neuen Welt?

Q: Do you consider this a Hardcore Punk album in genre or philosophy?

A: "I don’t hear much of the former on a spiritual level, but I do hear plenty of the latter—where musical choices are clearly influenced by a desire to do something that hasn’t been done before." E.S.R.

Hinweis: Der Autor dieses Textes hat weder Psychologie, Nuklear- noch Quantenphysik studiert.

Sein Leben begann mit einer Best-Of-Kassette der Beatles, welche ihm bis heute noch in den Ohren klingt und die Pforten zur Welt öffnete. Zwischen Harmoniesucht & Destruktionslust besuchte er in London eine Kunstschule, wo er vor allem für Malerei, romantische Dichter*innen & Punk Superheroes schwärmte. Seit 2016 ist er Co-Verantwortlicher des Radio X Musikprogramms, wo er sich begeistert, für Klänge abseits des Kanons. Er ist MAZ dipl. Journalist.